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Mensch-Umwelt-Interaktion, Permakultur und Bewusstseinswandel

von Michael Hahl

Rezension von Michael Hahl zu Bernd Gerken, 2008, Momente wahren Lebens. Geschichten um den heilenden Abstand zum Ich. Books on Demand, Norderstedt.

Es ist ein Büchlein mit 92 Seiten. Der Titel "Momente wahren Lebens" verspricht so einiges und bleibt doch gänzlich unkonkret. Das, worum es geht, lässt sich vom Titel her schwer greifen. Und auch die Kapitel im Inneren bewegen sich mal hier hin, mal da hin, nicht so recht definierbar. Das Buch ist ein „Grenzgänger“. Und als solchen sehe ich Bernd Gerken selbst - doch eins nach dem anderen ...

 

Prof. Dr. Bernd Gerken ist vielen, die naturwissenschaftlich - vor allem im Bereich der Ökologie, Geobotanik oder Geographie - ausgebildet sind, arbeiten und denken, seit langer Zeit bekannt. Als „Jahrgang 1949“ hat er nach seinem Studium in Freiburg neben einer langen und fraglos reichhaltigen Laufbahn als Dozent und Forscher kleinere Standardwerke herausgegeben, die ebenso populärwissenschaftlich wie fundiert unter anderem Themen wie "Auen" oder "Moore und Sümpfe"beackern. Manchen ist Gerken vielleicht auch als Initiator des "Solling-Projektes" über den Weg gelaufen: ein Hutewald-Projekt im niedersächsischen Naturpark Solling-Vogler. Durch ganzjährige Beweidung mit Heckrindern und Exmoorpferden wird hier seit dem Jahr 2000 eine artenreiche, Savannen-ähnliche Kulturlandschaft reproduziert, wie sie in der mitteleuropäischen Umweltgeschichte aufgrund der Waldweide lange verbreitet war. Neben der Bedeutung der Hutewälder für die Biodiversität wird mit dem Solling-Projekt auch ein besonderer naturtouristischer Anreiz erzielt.

 

Bernd Gerken ist offenkundig schon immer ein innovativer Ideengeber - eine Schöpfernatur, ein bodenständiger Naturschützer, mehr als das ein visionärer „Landschaftsentwickler“ und ein umfassender Denker und Praktiker, für den das tiefe Verständnis des Mensch-Umwelt-Miteinanders wohl eine für sein Schaffen maßgebliche Antriebskraft bedeutet. Dies kulminiert nicht zuletzt in seinem 2002 entstandenen Konzept eines „Zentrums für Ökologie und Gesundheit“ mit Namen „Haliotis“, in dem unter anderem Permakultur und Ernährungsfragen fokussiert werden.

 

Diese Vorgeschichte ist erforderlich. Gerkens Buch "Momente wahren Lebens" kommt jedoch nicht als wissenschaftliches Werkstück daher; ich interpretiere es als eine Art „Experiment“, ein lebendiger und leichtgängiger Versuch über die Grenze zwischen dem, was einer auf dem Gebiet der Geobotanik und Ökologie erfasst und innovativ in die Praxis des Natur- und Landschaftsschutzes umsetzt, und dem, was durch einen ganzheitlichen Denk- und Lebensansatz in aller Konsequenz nun mal dazu gehört: nicht nur Kulturlandschaftsentwicklung, sondern auch Bewusstseinsbildung, und zwar im Sinne eines Bewusstseinswandels.

 

Das Büchlein verfolgt - wie ein Mosaik unterschiedlicher Perspektiven - einen "transdisziplinären" Kurs, teils gleichwohl jenseits akademischer Disziplin. Wäre es ein rein naturwissenschaftliches Buch über Permakultur, Landnutzung und Mensch-Umwelt-Interaktion, so fehlte ihm geistige und spirituelle Kraft, die "Durchleuchtung", das Einbeziehen anderer Ebenen. Doch ein "nur" spirituelles Buch - im Sinne einer „spirituellen Ökologie“ - hätte wiederum keinen naturwissenschaftlichen Tiefgang. Bernd Gerken spielt mit dem Überschreiten dieser Grenze, pendelt manchmal in die eine Sparte, manchmal in die andere. Setzt handfeste umweltgeschichtliche Aspekte neben Tai Chi und die Mystik eines Eckhart Tolle. Ist ein Mal Geobotaniker, dann wieder spiritueller Denker und Umweltethiker. Scheint sich spielerisch auf die Suche nach einer Synthese zu begeben.

 

Diese scheinbar getrennten Kräfte zu verknüpfen, ist eine wichtige Aufgabe für diejenigen, die sowohl den ökologischen Sachverstand, als auch die Perspektive einer spirituellen Naturverbundenheit in sich verbinden. Es handelt sich um eine holistische Herangehensweise, die nicht allzu viele bewältigen könnten, da es nur wenige gibt, die ebenso profund wie inspiriert unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen in der Lage sind, welche - Kippbildern ähnlich - Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen mal auf die eine, mal auf die andere, unterm Strich eben auf eine ganzheitliche Weise beschreiben.

 

Solchen spielerischen Umgang mit Naturkunde und Bewusstsein spiegeln die - für mich wichtigsten - Kapitel "Momente, die Mittelmeer-Landschaft und die Landschaft in uns", "Über Haliotis' Permakultur" oder "Über Wind und heilende Vegetation". Den zweifachen Wissenspfad in diesem Büchlein ein- und auszuüben, dabei die vermeintliche Grenze zu überschreiten, scheint mir die eigentliche Bedeutung des 2008 erschienenen Schreibexperiments Bernd Gerkens mit den skizzenhaften Geschichten rund um den "heilenden Abstand zum Ich".

 

Und dann, an einigen Stellen, wird es ebenso bodenständig wie visionär ganz konkret, etwa wenn es um Kriterien eines Wandels geht, auch im Sinne eines Landnutzungswandels, einer Rückbesinnung auf die Vielfalt der wilden Arten und Sorten, eines gemeinschaftlichen Miteinanders, einer Empfehlung kleinbäuerlicher und kleinbetrieblicher Wirtschaftsweisen: „Was idealistisch klingt und an Fläche derzeit in den westlich-zivilisierten Ländern eher noch an Boden verliert, enthält in dieser Zeit gleichwohl wachsende Nahrung. Auch wenn das nur idealistisch und noch nicht realistisch sein mag – es ist jetzt die Zeit, dass möglichst viele Menschen helfen, geeignete Modelle dazu zu entwickeln, sie durch sich selbst zu erleben und ihre Erfahrungen zu teilen!“ (S. 63) Permakultur, so heißt es, sei eine „Garten- und Landpflegekunst. Sie lässt den Menschen zu keiner Zeit als Angreifer wirken, weder auf die Landschaft, noch auf die ... beteiligten Menschen und ihre lebenden Begleiter“ (S. 26). Sie sei „umfassend sozial und wird in den Gesellschaften grundlegende Veränderungen bewirken“ (S. 33). Permakultur und gemeinschaftlich organisierte Kleinbetriebe demnach als Wege zum Frieden mit der Natur, um mit dem Naturphilosophen Meyer-Abich zu sprechen – nichts Geringeres ist offenbar der Anspruch, den die skizzierten „Momente wahren Lebens“ vermitteln wollen.

 

Man könnte dem Buch Punktabzug geben dafür, dass es eine Art Flickenteppich bleibt, eher ein Notizbuch, dem die eindeutige Linie und das Homogene fehlt, dem einerseits Tiefgang  und kraftvolle Innovation innewohnen, dann wieder eine gewisse Schludrigkeit, die wie schnelle Pinselstriche daher kommt. Diese „Momente wahren Lebens“ wirken auf mich geradezu wie ein Zwischenschritt, um vielleicht etwas in sich prägnanter Abgestimmtes, weniger Bruchstückhaftes und dadurch möglicherweise Stärkeres zu schaffen. Vielleicht kommt es aber auch genau darauf gar nicht an und das der Erde verbundene Handeln - im besten Wissen über traditionelle Landnutzung, über absurde Umweltsünden, über Permakultur und um das Geheimnis eines „wahren Lebens“ im achtsamen Augenblick - ist letztlich viel wichtiger als das Schreiben darüber. Eine dem Notizbuch immanente Lektion über Schwere und Leichtigkeit vielleicht ...

 

Insofern passt es wiederum gut, wenn der skizzenhafte Inhalt des Büchleins als "Momente" geführt wird, offenbar ohne den Anspruch zu hegen, eine akademische Naturphilosophie zu inszenieren. Und genau als solches, als leichtes und doch tief reichendes Werkstück, das unkomplizierte Versuche unternimmt, die Grenze zwischen wissenschaftlichem Fachwissen und Bewusstseinswandel zu überschreiten, möchte ich die 92 Seiten werten. Die innovative Herangehensweise, die mir sehr wichtig erscheint für eine ganzheitliche Mensch-Umwelt-Beziehung der Zukunft (welche bekanntlich heute beginnt) verdient volle Punktzahl und vor allem dies: von Ihnen, falls Sie sich von dieser Rezension angesprochen fühlen, gelesen zu werden.

 

Waldbrunn, 20. Dezember 2015, Michael Hahl M.A., Geograph

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