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Der Neidkopf am Rosenturm

von Michael Hahl

Was einer der Eberbacher Ecktürme über magisches Denken verrät

 

Der kreisrunde Grundriss zeichnet ihn aus, und die massigen Quadersteine in seinem Sockel entsprechen dem Fundament der alten Stadtmauer: Der heute nur noch knapp 14 Meter hohe Rosenturm wurde wohl schon im 13. Jahrhundert errichtet und gilt als ältester der vier Eberbacher Stadttürme. Wie eine Zeichnung aus dem Jahr 1619 zeigt, trug der erhaltene Torso einst ein spitzkegeliges Turmdach. Die Eingangspforte ist auf halber Höhe des Turmgebäudes eingelassen. Am Türsturz des Turmstumpfes befindet sich - leider von unten nur schwer einzusehen - eine in Sandstein gemeißelte Figur, ein Neidkopf. Erkennbar ist eine liegende Gestalt mit menschlichem Gesicht und fischartigem Leib.

 

Neidköpfe waren einst Elemente magischer Formensprache, die in der historischen Architektur vieler Gebäude Verwendung fanden. Das althochdeutsche Wort "nid" bedeutete nicht nur "Neid", wie wir es heute kennen, sondern auch "Zorn" oder "Hass": Im magischen Verständnis früherer Generationen versinnbildlichten Neidköpfe Schrecken, Spott und Abwehr. Sie hatten die Funktion, die Bewohner der Gebäude gegen feindselige Menschen zu schützen, aber auch böse Geister und unheilvolle Mächte zu bannen und abzuwehren. – Auch der Neidkopf am Rosenturm wird wohl dazu gedient haben. Aber gegen welches Unheil sollte er die Menschen schützen? Betrachten wir uns das Bildnis also einmal näher!

 

Im 15. Jahrhundert ist ein „Kobold“-Brunnen in den Urkunden Eberbachs erwähnt, der sich direkt am Zwinger befunden haben soll. Man darf vermuten, dass dieser Koboldbrunnen neben dem Rosenturm stand. Denn der eigentliche Turmname lautete früher "Rossenbrunner Thurn": Wahrscheinlich befand sich neben dem Bauwerk ein Brunnen für Rosse, eine Pferdetränke. Da der Neidkopf im Türsturz des Turmes als koboldartiges Abbild interpretiert werden kann, liegt die Folgerung nahe, dass diese Pferdetränke am Rosenturm im Volksmund gerne Koboldbrunnen genannt wurde.

 

Kobold ist ein alter Begriff für einen sagenhaften Haus- und Naturgeist, der ein Gebäude und seine Menschen schützt, wenngleich er traditionell als etwas neckisch gilt und gerne seine Späße treibt. In der europäischen Mythologie werden Kobolde zu den Naturgeistern gezählt, denen auch Wassergeister wie die Nixen oder der Nöck angehören. Der Fischleib des Neidkopfes am Rosenturm erinnert an einen solchen Wassergeist.

 

Es scheint, als habe dieser halb menschliche, halb fischartige Naturgeist einen Bezug zum Wasser, zum Neckar. Wurde hier vielleicht ein koboldartiges Naturwesen abgebildet, das im magischen Denken unserer Vorfahren dazu dienen sollte, den Turm, die Stadtmauer und die ganze Stadt samt ihren Bewohnern zu schützen, und zwar vor einer der unheilvollsten Mächte und größten Gefahren des mittelalterlichen Eberbachs: vor dem Neckarhochwasser?- Diese Vermutung liegt nahe und unter diesem Blickwinkel erhält der zum ruinenhaften Stumpf verkommene Rosenturm eine ganz besondere Note, die uns etwas von der Denkweise und aus der „Stadtplanung“ früherer Jahrhunderte erzählen kann.

 

Noch heute ist der Rosenturm mit seinem koboldartigen Wassergeist ein historisches Wahrzeichen der Stadt Eberbach. Seinem Abriss ist er einst nur entgangen, weil er eine Schutzfunktion gegen Hochwasser und Eisgang hatte – und sicherlich nicht allein durch seinen magischen Neidkopf, sondern natürlich auch aufgrund seiner massiven Bauweise, die sich fest in die robuste Stadtmauer einfügte.

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